M. Hardt u.a. (Hg.): Inventing the Pasts in North Central Europe

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Title
Inventing the Pasts in North Central Europe. The National Perception of Early Medieval History and Archaeology


Editor(s)
Hardt, Matthias; Lübke, Christian; Schorkowitz, Dittmar
Series
Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel 9
Published
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Extent
346 S.
Price
€ 56,50
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Peter Mario Kreuter, Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn

Schon der Haupttitel des Sammelbandes macht deutlich, worum es gehen soll. Denn Inventing the Pasts in North Central Europe enthält nicht nur eine ungefähre geographische Angabe, sondern vor allem die beiden Elemente, um die sich alles dreht: „inventing“, durchaus im Sinne von „erfinden“ und auch „erdichten“ zu verstehen, und „pasts“, ein Wort, das deutlich werden lässt, dass es um Geschichtsbilder und -interpretationen geht. Die Nutzbarkeit desselben Quellenmaterials für nationalideologische Zwecke sowie die Schaffung von Ethnizität auf der Grundlage eines bestimmten Geschichtsverständnisses sind die Themenkomplexe, die in vier Abschnitten mit insgesamt 15 Aufsätzen abgehandelt werden sollen.

Diesem durch den Titel selbst gesteckten Anspruch kann der Band, der auf eine Tagung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig vom November 2000 zurück geht, durchaus genügen. Die vier Abschnitte des Bandes lauten „Archaeology and Ethnicity“, „Symbols of Ethnicity and their Perception“, „Images of the Others“ und „National Perceptions of History in the 20th Century“. Wie bei einem Sammelband nicht anders zu erwarten, schwanken Quantität und Qualität der einzelnen Beiträge. So stehen dem inhaltlich sehr knappen Aufsatz von Przemyslaw Urbanczyk mit dem Titel „Do We Need Archaeology of Ethnicity?“ mit sieben Seiten (S. 43-49) die insgesamt 61 Seiten bei Dittmar Schorkowitz’ „Rekonstruktionen des Nationalen im postsowjetischen Raum. Beobachtungen zur Permanenz des Historischen“ (S. 273-333) gegenüber. Den englischsprachigen Aufsätzen hätte generell eine sprachliche Bearbeitung gut getan, und es drängt sich der Verdacht auf, dass die relative Kürze bei vier von ihnen auch mit nicht allzu guten Sprachkenntnissen der Verfasser in Verbindung stehen könnte.

Der erste Abschnitt „Archaeology and Ethnicity“ ist derjenige, der den inkohärentesten Eindruck macht. Denn während sich Sebastian Brather in seinem Aufsatz zu ethnischen Interpretationen in der Archäologie gegen ethnische Deutungen wendet und für eine stärkere Beachtung von wirtschafts- oder sozialgeschichtlichen Fragestellungen votiert, sieht der schon erwähnte Przemyslaw Urbanczyk gerade ethnischen Fragestellungen als unverzichtbar an. Das Ergebnis solcher methodischer Zerfahrenheit zeigt sich exemplarisch an Jerzy Gassowskis Text „Is Ethnicity Tangible?“, bei dem der Leser zum Schluss nicht weiß, ob Gassowski mit Begriffen wie „Huns“ oder „Slavs“ archäologische, linguistische oder ethnische Klassifikationen vornehmen möchte.

Im zweiten Abschnitt „Symbols of Ethnicity and their Perception“, der mit fünf Beiträgen das breiteste Spektrum an Texten vorzuweisen hat, stehen vor allem archäologische Quellen im Vordergrund. Schiffwracks, angebliche ottonische Palastbauten in Magdeburg, die so genannte Reichsburg Meißen oder die Prillwitzer Idole, wohl im 18. Jahrhundert gefälschte Darstellungen angeblicher slawischer Götter, führen den Leser weg von schriftlichen Quellen hin zu materiellen Überresten. Das schöne an allen Beiträgen ist, dass sich ihre Autoren nicht auf eine rein archäologische Argumentation zurückziehen, sondern immer wieder auch Quellenkritik und besonders im Falle von Babette Ludowici, die über Magdeburg als angeblichen Hauptort des ottonischen Imperiums berichtet, auch fachliche Selbstkritik üben. Wie sehr politische Vorgaben und die Nachwirkungen des Dritten Reiches archäologische Interpretation beeinflussen konnten, vermag Ludowici durch eine kritische Analyse der frühen Grabungsergebnisse aus Magdeburg anschaulich zu demonstrieren.

Der dritte Abschnitt „Images of the Others“ setzt sich aus drei deutschsprachigen Beiträgen zusammen. Stine Wiell untersucht Bildquellen zum dänisch-deutschen Streit um die Moorwaffenfunde aus der Eisenzeit und kann hierbei einige herrliche Beispiele für nationalen Historienkitsch beibringen. Christian Lübke betrachtet das Bild der mittelalterlichen Slawen in der deutschen Geschichtswissenschaft, wobei er besonders der Interpretation mittelalterlicher Bildquellen viel Raum zugesteht. Nach diesen beiden wirklich bilderlastigen Beiträgen liefert Matthias Hardt eine Arbeit zur Imagologie über den Blick der älteren deutschen Forschung auf slawische Siedlungen im Mittelalter.

Im vierten und letzten Abschnitt „National Perceptions of History in the 20th Century“ steht der Einfluss ethnischer Zugehörigkeit und nationaler Ideologien auf die Historiographie des 20. Jahrhunderts im Zentrum des Interesses. Besonders der lange Beitrag von Dittmar Schorkowitz zur Rekonstruktion des Nationalen im postsowjetischen Raum, der den Leser bis in den Kaukasus und auf den Balkan führt, kann die Konfrontation verschiedener, oft benachbarter und dadurch aus demselben Quellenmaterial schöpfender Staaten samt dazugehörender Geschichtsideologien anschaulich herausarbeiten. Daneben sind die anderen drei Aufsätze jeweils auf ein einzelnes Land konzentriert. Elaine Smollin rückt Litauen in den Fokus, Derek Foster tut dies mit Finnland, und Leszek Pawel Slupecki beschäftigt sich mit der Mythologieforschung in Polen.

Ein wenig Kritik kann leider nicht vermieden werden. Warum ein Sammelband, in dem von 15 Aufsätzen nur sechs in englischer, neun aber in deutscher Sprache verfasst wurden, ja in dem sogar Vorwort und Abbildungsverzeichnis deutsch gehalten sind, einen englischen Titel bekommen musste, ist nur schwer nachvollziehbar. In technischer Hinsicht ist der Band nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Das Layout macht nicht nur mit Blick auf die Wahl von Schriftart und Satzspiegel den Eindruck einer Seminararbeit. Auch einige Details tragen zu diesem Eindruck bei, so die Anführungszeichen nach englischem Muster in deutschsprachigen Aufsätzen oder der Umstand, dass Buchstaben mit Diakritika häufig im Fettdruck oder gar in einer Groteskschrift, die sich deutlich von der verwendeten Antiqua unterscheidet, auftauchen. Die interessanten Abbildungen sind von unterschiedlicher Qualität, teils sehr sauber und kontrastreich, teils verschwommen oder zu dunkel. Für einen europäischen Großverlag wie Peter Lang ist dies ein eher enttäuschendes Ergebnis. Die Bindung jedoch ist stabil, die Umschlaggestaltung ansprechend.

Trotz dieser Kritik an technischen Elementen kann das Fazit nur positiv sein. "Inventing the Pasts in North Central Europe" bietet eine interessante und ausgewogene Sammlung von Aufsätzen, die sich zumeist mit der Frage nach dem Entstehen oder besser der Erschaffung von Vergangenheit aus archäologischen und schriftlichen auch in dem Umfang beschäftigen, wie es der Titel ankündigt. Zugleich macht der Band auch deutlich, wie fruchtbar eine Zusammenarbeit von Historikern und Archäologen für eine Kritik solcher Vergangenheitserfindungen ist, denn gerade aus der bewussten Verflechtung dieser Disziplinen im 19. und 20. Jahrhundert erklärt sich die Wirkmächtigkeit dieser Konstrukte bis in unsere Zeit hinein. Die leider in sich sehr widersprüchliche erste Sektion führt dies denn auch unfreiwillig vor. Es bleibt zu hoffen, dass die dem Sammelband zugrunde liegende Idee noch zu Tagungen über andere Regionen Europas oder der Welt führen wird. Wer wissen möchte, wie fruchtbar eine Beschäftigung mit dem Thema ist, sollte sich den Sammelband unbedingt zu Gemüte führen.

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Published on
06.10.2006
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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